Blogarchiv

10.02.2021

Gott im Lockdown

Eben neu erschienen, sehr empfehlenswerte Lektüre für Seelsorgerinnen und Pastoralpraktiker: Die Studie des renommierten Wiener Pastoraltheologen Paul M. Zulehner (Patmos 2021). Insbesondere auch Teil 5: "Kirchen und ihr Gottesdienst in der Pandemie"...
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18.01.2021

Wir brauchen eine neue Geschichte

Thomas Kuhns Buch "The Structure of Scientific Revolutions" (1962) hat den Begriff "Paradigmenwechsel" populär gemacht. Ein Paradigma ist eine Reihe von Überzeugungen, "mental maps" und Strukturen, die bestimmen, wie wir über etwas denken. Kuhn (1922–1996) sagte, dass ein Paradigmenwechsel notwendig wird, wenn das vorherige Paradigma unzureichend ist. Ich denke, wir befinden uns wieder an einem dieser kritischen Punkte. Möglicherweise geht 2020 als Jahr in die Geschichte ein, in dem ein Paradigmenwechsel startete. Die Frage für 2021 ist: Sind wir bereit, neue Überzeugungen, Werte und Systeme anzunehmen, die die Menschheit und unsere Welt verändern (und vielleicht sogar retten) könnten?
 
Richard Rohrs Kollege Brian McLaren verwendet den Begriff der „Rahmengeschichte“, um dasselbe Phänomen zu beschreiben, das Kuhn beobachtet hat. Brian sagt, dass eine Rahmengeschichte „den Menschen Richtung, Werte, Vision und Inspiration gibt, indem sie einen Rahmen für ihr Leben bietet. Es sagt ihnen, wer sie sind, woher sie kommen, wo sie sind, was los ist, wohin die Dinge gehen und was sie tun sollen. " (Brian D. McLaren, Alles muss sich ändern: Jesus, globale Krisen und eine Revolution der Hoffnung, Thomas Nelson: 2007, 5–6). Während wir alle Geschichten haben, die diese Fragen auf persönlicher Ebene beantworten, diktiert eine „Rahmengeschichte“ die allgemeinen Überzeugungen einer Kultur, Nation, Religion und sogar der Menschheit als Ganzes.

Brian schreibt überzeugend, dass "unsere wachsende Liste globaler Krisen [noch vor der COVID-19-Pandemie!] zusammen mit unserer Unfähigkeit, sie effektiv anzugehen, uns starke Beweise dafür liefert, dass die dominierende Rahmengeschichte unserer Welt versagt." Er schreibt: "Wenn sie [unsere Rahmengeschichte] uns sagt, dass der Zweck des Lebens darin besteht, dass Einzelpersonen oder Nationen während der maximalen Anzahl von Minuten unseres kurzen Lebens eine Fülle von Besitztümern ansammeln und ein Höchstmaß an Vergnügen erleben, dann haben wir wenig Grund unseren Verbrauch zu verwalten. Wenn unsere Rahmengeschichte uns sagt, dass wir im Wettbewerb um Leben und Tod gegeneinander stehen. . . dann werden wir wenig Grund haben, Versöhnung und Zusammenarbeit sowie gewaltfreie Lösungen für unsere Konflikte zu suchen. . . .

Aber wenn unsere Rahmengeschichte uns sagt, dass wir freie und verantwortungsbewusste Wesen in einer Schöpfung sind, die von einem guten, weisen und liebenden Gott geschaffen wurden, und dass unser Schöpfer möchte, dass wir Tugend, Zusammenarbeit, Frieden und gegenseitige Fürsorge für einander und alle Lebewesen anstreben, und dass unser Leben einen tiefgreifenden Sinn haben kann, wenn wir uns auf Gottes Weisheit ausrichten. . . dann wird unsere Gesellschaft eine radikal andere Richtung einschlagen und unsere Welt wird ein ganz anderer Ort." (Ebd., S. 67)

 
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24.12.2020

Frohe, lichtvolle Weihnachten!

"Wo ist, der nun geboren ist als König der Juden? (Mt 2,2). Beachtet nun bei dieser Geburt, wo sie geschehe: Wo ist, der geboren ist? Ich sage aber, dass diese Geburt in der Seele geschieht ganz in der Weise, wie sie in der Ewigkeit geschieht; denn es ist eine einzige Geburt, und diese Geburt geschieht in der Seele [...] Warte nur auf diese Geburt in dir, so findest du alles Gute und allen Trost, alle Wonne, alles Sein und alle Wahrheit."

(Meister Eckhart, Predigt 58)
28.10.2020

Gastfreundschaft als Schlüssel für die Zukunft des Christentums

In seinem Buch "Christentum als Stil" (2018) beschreibt der deutsch-französische Theologe Christoph Theobald den Stil Jesu als Gastfreundschaft und bedingungslose Bereitschaft, Leute zu empfangen. Im Neuen Testament sei die Gastfreundschaft ein zentrales Thema. Ein sehr empfehlenswertes, wenn auch nicht ganz leicht zu lesendes Buch in der Tradition der "Pastorale d'engendrement".

Vor allem das Lukasevangelium hat Christoph Theobald zur Überzeugung geführt, dass der Schlüssel zur Zukunft in der Gastfreundschaft liegt, wie sie Jesus vorgemacht hat: "Wir sehen Jesus als Wanderer, der um Gastfreundschaft bittet, aber gleichzeitig auch seine eigene anbietet. Häufig übt er seinen Dienst im Rahmen einer Mahlzeit aus: Er isst mit den Armen, Zöllnern, Prostituierten und wird als Trunkenbold und Vielfrass beschimpft. Er überschreitet die Grenze zwischen Reinem und Unreinem. Er zeigt auf sehr konkrete Weise seine barmherzige, bedingungslose Gastfreundschaft."
 
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02.10.2020

Buchempfehlung

Der Bestseller des oberschwäbischen Kirchenhistorikers ist absolut empfehlenswert! Hubert Wolf schildert in seinem neuesten Buch den Weg Pius' IX. zum mächtigsten und am längsten amtierenden Papst der Geschichte (1846 - 1878), der den Katholizismus neu erfand. Das fesselnd und anschaulich geschriebene Buch ist eine kalte Dusche für alle, die im Papst den Repräsentanten uralter Traditionen sehen. 

Hubert Wolf beschreibt, wie der Katholizismus im Namen erfundener Traditionen ganz auf Rom ausgerichtet wurde. Im Bewusstsein eigener Machtvollkommenheit verkündete Pius IX. das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens, schottete die Kirche mit dem «Syllabus errorum» von Demokratie und Moderne ab und ließ sich auf dem Ersten Vatikanischen Konzil für unfehlbar erklären. Traditionalistischen Kritikern beschied er kühl: «La tradizione sono io», die Tradition bin ich! Das Buch macht eindrucksvoll deutlich, wie seither alles mit dem Papst steht - und mit ihm fällt.  

27.09.2020

Impuls zum Wochenstart - Interspirituelle Mystik

Vertiefen wir das, was Gott zu Mose gesagt hat: „Ich bin der ‘ich bin da’“ (Exodus 3,4). Gott ist eindeutig nicht an einen Namen gebunden, sondern ist absolute Präsenz. Er ist wie Augustinus sagt "innerlicher als wir uns selbst." 
Gott scheint auch nicht zu wollen, dass wir die Göttlichkeit an einen Namen binden. Deshalb wurde im Judentum Gottes Aussage Mose gegenüber zu Gottes unaussprechlicher Identität. Einige sagen sogar, dass der Name Gottes buchstäblich nicht „gesprochen“, sondern nur geatmet werden kann.[1] 

Manchmal wünschte ich, wir hätten so weitergemacht. Allein diese Tradition sollte uns sagen, dass wir tiefe Demut gegenüber Gott üben sollen, der uns keinen Namen gibt, sondern nur reine Präsenz, keinen Begriff, der uns glauben lässt, wir „wissen“, wer Gott ist oder das Göttliche als unseren privaten Besitz wähnen.

Auch Christus ist immer «semper maior», grösser als jede andere Ära, Kultur, jedes Reich oder jede Religion, jede Konfession. Seine radikale Inklusivität ist eine Bedrohung für jede Machtstruktur und jede Form von arrogantem Denken, von Klerikalismus und Ideologie. Jedoch: Christus wurde in den ersten zweitausend Jahren von Kultur, Nationalismus und der eigenen kulturellen Gefangenschaft des westlichen Christentums für eine weisse, bürgerliche und eurozentrische Weltanschauung gefangen genommen. Wir haben oft die Art und Weise übersehen, wie Jesus sich offenbart, weil „unter uns einer stand, den wir nicht erkannten“ (Johannes 1,26). Er kam in mitteltöniger Haut, aus der Unterschicht, einem männlichen Körper mit einer weiblichen Seele, und lebte an der Schwelle zwischen Ost und West. Niemand besitzt ihn und niemand wird es jemals tun.

Jesus sagt klar, dass es nicht vorrangig ist, Gott richtig zu benennen: „Glaube nicht denen, die ‘Herr, Herr' sagen“ (Lukas 6,46). Es geht um richtiges Handeln (Othopraxie), nicht um das richtige Sagen. Die verbale Orthodoxie war jedoch das Hauptanliegen des Christentums und erlaubte ihm zeitweise sogar, Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil sie es nicht „richtig gesagt“ hatten. Am Ende verbreiteten wir nationale Kulturen anstelle einer universal befreienden Botschaft. Was ich eine inkarnatorische Weltanschauung nenne, ist die tiefe Anerkennung der Gegenwart des Göttlichen in buchstäblich „allem“ und „jedem“. Denken wir immer daran: Alle sind Kinder Gottes! Nicht nur die Katholiken und Reformierten, sondern auch die Halbgläubigen, Atheisten und Apatheisten...

Ich würde sogar sagen, dass der Beweis, dass Sie ein reifer Christ sind, darin besteht, dass Sie Christus überall, in jedem anderen sehen können. Authentische Gotteserfahrung erweitert immer Ihr Sehen und schränkt es niemals ein. Was wäre Gott sonst noch wert? In Gott schliesst du nicht immer weniger ein; du siehst und liebst immer mehr. Und von diesem Ort aus verlieren wir jegliche Angst, mit Menschen anderer Glaubensrichtungen in Diskussion, Gebet und Freundschaft zu treten.

Referenzen:
[1] Richard Rohr, The Naked Now (Crossroad Publishing: 2009), 25-26. In fact, the holy name YHWH is most appropriately breathed rather than spoken, and we all breathe the same way.Adapted from Richard Rohr, The Universal Christ: How a Forgotten Reality Can Change Everything We See, Hope For, and Believe (Convergent: 2019), 17-18, 33, 35. 

Der Text ist entnommen von Richard Rohr, mit einigen wenigen Ergänzungen,
vgl. https://cac.org/an-unspeakable-name-2020-09-21/?utm_source=cm&utm_medium=email&utm_campaign=dm&utm_content=summary
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22.03.2020

Impuls zum Wochenstart: Gott rächt sich nicht an seinen Geschöpfen

Im Sonntagsevangelium (Joh 9,1-41) heisst es zu Beginn: 
"In jener Zeit sah Jesus unterwegs einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?
Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt."
Was bedeutet das? Wir folgen der Auslegung durch den Theologen Eugen Biser (1918-2014):

Ganz am Anfang der Geschichte werfen die Jünger die Frage auf: "Meister, wer hat in diesem Fall gesündigt? Dieser Blinde selbst oder seine Eltern?" Es ist also die Vorstellung, dass alles Unglück in der Welt ein direkt oder indirekt selbst verschuldetes ist. Überall, wo ein Mensch in Not kommt, muss nach dieser Vorstellung zurückgefragt werden, nach dem, was er an Schuld auf sich geladen hat; denn alles Leid dieser Welt ist Strafe. Das ist die Mentalität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Dieser allgemein herrschenden und selbstverständlich auch heute noch lebendigen Mentalität widerspricht Jesus mit dem befreienden Wort: "Hier hat weder der Blinde gesündigt noch seine Eltern..." Das Unglück ist keineswegs in jedem Fall selbstverschuldet und in keinem Fall eine Strafe Gottes. Wer sich in diese Meinung verstrickt, der ist im Sinne Jesu blind, der lebt in der Finsternis. 

Wir sollten das sehr ernst nehmen; denn eine tief eingewurzelte Meinung geht davon aus, dass überall dort, wo Leid vorkommt, nach irgendeinem Verschulden zurückgefragt werden müsse, weil alles Unglück Strafe Gottes sei. Jesus aber verkündet einen Gott, der sich nicht an seinen Geschöpfen rächt. Seine Botschaft ist eine Botschaft, die uns über diese Strafmentalität hinausträgt, und die von Gott grösser denkt, als es der aufrechnenden Denkweise der meisten entspricht. Es ist jener Gott, von dem wir in der Bergpredigt hören, dass er gütig ist selbst gegen die Undankbaren und Bösen.
 
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16.04.2019

Stattkloster Wochenimpuls KW 16-17 (2019) - Jesus nachfolgen (Letzter Teil)

Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Wer mein Jünger sein will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ (Matthäus 16,24) Was bedeutet es, Jesus nachzufolgen? In der Karwoche sind wir eingeladen, das Bild des gekreuzigten Jesus zu betrachten, um unser Herz für alle Leiden zu erweichen und wahrzunehmen, dass Gottes Herz uns gegenüber immer weich geworden ist.
 
Sich auf die christliche Sache einzulassen und Teil der Jesusbewegung zu werden ist weder beneidenswert noch bequem. Jesus nachzufolgen ist eine Berufung, das Schicksal Gottes für das Leben der Welt zu teilen. Jesus nachfolgen hat wenig damit zu tun, an die richtigen Dinge über Gott zu glauben - ausser der Tatsache, dass Gott Liebe ist (vgl. 1 Joh 4). Diejenigen, die bereit sind, das mit zu tragen und das zu lieben, was Gott liebt, barmherzig zu sein wie er barmherzig ist, und sich mit ihm und den Menschen versöhnen zu lassen, sind die Nachfolger Jesu Christi. Sie sind der Sauerteig, das Salz, der Senfsamen, mit dem Gott die Welt verwandelt.

Das Kreuz ist also ein sehr dramatisches, aber auch sehr klares Bild dafür, was es braucht, um für Gott und den Menschen da zu sein. Es bedeutet nicht, dass Sie einst in den Himmel kommen und andere nicht. Es bedeutet vielmehr, dass Sie den Himmel bereits betreten haben und die Dinge jetzt schon auf eine transzendente, ganzheitliche und heilende Weise sehen können.

Fragen zum Nachdenken:

- Was heisst für Dich, Dein Kreuz auf Dich zu nehmen?

- Was bedeutet es für Dein Verhalten anderen gegenüber, dass Gott Liebe ist?

- Wie versöhnst Du Dich mit Gott und den Menschen?

Referenz:

Die Wochenimpulse lehnen sich an die Meditationen des Franziskanerpaters Richard Rohr im «Center for Action and Contemplation» (Albuquerque, New Mexico) an, vgl. https://cac.org

Lektüre zur Vertiefung: Richard Rohr, The Universal Christ: How a Forgotten Reality Can Change Everything We See, Hope For, and Believe (Convergent Books: 2019).
 
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09.04.2019

Stattkloster Wochenimpuls KW 15 (2019) - Jesus nachfolgen (5)

Auch heutzutage haben viele Menschen den Eindruck, als würde die Mission des Christentums vor allem darin bestehen, sein Glaubensbekenntnis immer wieder zu verkünden. Tatsächlich sind die Glaubensbekenntnisse in einem Kontext entstanden, in dem es vor allem um den «rechten Glauben» ging («Orthodoxie»). Dabei ging es Jesus doch vor allem um Heilung und «rechtes Tun»!
Das Wort „Heilung“ kehrte erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in das christliche Vokabular zurück, und selbst damals wurde es reserviert aufgenommen, ja sogar abgelehnt. In der katholischen Tradition wurde die Heilung bis in die letzte Stunde des Lebens zurückgedrängt und als «letzte Ölung» bezeichnet. Offenbar war uns nicht bewusst, dass Jesus den leidenden Menschen mitten im Leben eine kostenlose Gesundheitsversorgung bot. Und das war keine «letzte» Massnahme im Hinblick auf das Dasein nach dem Tod.

Jesus befasste sich eindeutig mehr mit dem, was die Buddhisten als «richtiges Tun» («Orthopraxie» im Christentum) bezeichnen, als mit den richtigen Worten oder dem richtigen Denken. Sie können diese Botschaft in seinem Gleichnis von den beiden Söhnen in Matthäus 21,28-31 sehr deutlich nachlesen: Ein Sohn sagt, er würde nicht im Weinberg arbeiten, tut es dann aber doch, während der andere sagt, dass er gehen wird, aber tatsächlich nicht geht. Jesus sagte seinen Zuhörern, dass er denjenigen, der tatsächlich geht, obwohl er die falschen Worte sagt, demjenigen vorziehen würde, der zwar die richtigen Worte sagt, aber nicht danach handelt. Wie konnten wir das in unserer langen Geschichte übersehen? Brauchen die Menschen nicht einen Jesus, den man anfassen kann, der für unser tägliches Leben relevant ist? Brauchen wir nicht einen Jesus, dessen Leben uns noch mehr retten kann als sein Tod? Einen Jesus, den wir auf praktische Weise nachahmen können und der die Messlatte dafür legt, was es bedeutet, vollkommen menschlich zu sein?

Fragen zum Nachdenken:

- Was bedeutet für Dich Heilung?

- Was heisst für Dich «Jesus anfassen»?

Referenz:

Die Wochenimpulse lehnen sich an die Meditationen des Franziskanerpaters Richard Rohr im «Center for Action and Contemplation» (Albuquerque, New Mexico) an, vgl. https://cac.org

Lektüre zur Vertiefung: Francis MacNutt, Healing (Ave Maria Press: 1974).
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01.04.2019

Stattkloster Wochenimpuls KW 14 (2019) Jesus nachfolgen (4)

Das apostolische Glaubensbekenntnis beginnt mit folgenden Worten: «Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria,  gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben...»

Haben Sie jemals den gewaltigen Sprung bemerkt, den das Glaubensbekenntnis zwischen "geboren von der Jungfrau Maria" und "gelitten unter Pontius Pilatus" macht? 
Ein winziges Komma verbindet diese beiden Aussagen. Und in diese Lücke fällt, als wäre es nur ein nebensächliches Detail, alles was Jesus zwischen seiner Geburt und seinem Tod gesagt und getan hat! Das sogenannte «Grosse Komma» führt unweigerlich zu der Frage: War denn alles, was Jesus in diesen Jahren gesagt und getan hat, nicht der Erwähnung wert? Waren sie nichts, woran zu «glauben» sich lohnte?

Es kommt noch dicker. Das apostolische Glaubensbekenntnis erwähnt nicht einmal die Liebe, den Dienst, die Hoffnung, die «geringsten Brüder und Schwestern». Die früheste Formel des christlichen Glaubens ist sozusagen eine Theologie ohne «Mission Statement». Zweimal werden wir daran erinnert, dass Gott allmächtig ist, aber wir hören nirgendwo, dass Gott auch der Leidende oder Verletzliche ist. Mit seiner Betonung auf Theorie und Theologie setzte das Glaubensbekenntnis das Christentum auf einen Kurs, auf dem wir uns noch heute befinden.

Zweifelsohne ist das apostolische Glaubensbekenntnis ein wichtiges Dokument der theologischen Zusammenfassung. Aber es präsentiert doch einen Gott, der von fast allem, was uns jeden Tag wichtig ist, ziemlich fern ist. «Liebe deine Feinde» oder «Halt’ die andere Wange hin» - im Glaubensbekenntnis gibt es keinen Hinweis zur Nachfolge, keine Andeutung für einen einfachen, christusähnlichen Lebensstil.

Fragen zum Nachdenken:

- Was ist Dir am Glaubensbekenntnis wichtig?

- Woran orientierst Du Dich im täglichen Leben?

Referenz:

Die Wochenimpulse lehnen sich an die Meditationen des Franziskanerpaters Richard Rohr im «Center for Action and Contemplation» (Albuquerque, New Mexico) an, vgl. https://cac.org

Lektüre zur Vertiefung: Richard Rohr, The Universal Christ: How a Forgotten Reality Can Change Everything We See, Hope For, and Believe (Convergent Books: 2019).
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25.03.2019

Stattkloster Wochenimpuls KW 13 (2019) - Jesus nachfolgen (3)

In den letzten Jahrzehnten war das Christentum vielfach mit dem beschäftigt, was Christen glauben, weniger damit, wie Christen leben. Vor allem im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert ging es vielfach um Fragen der Glaubenslehre. Aber in Jesus begegnet uns vor allem eine Einladung, sich einer Bewegung anzuschließen, bei der es darum geht, Gottes Güte in die Welt zu tragen.
 
Eine doktrinale, von der Lehre geprägte Sprache infiziert unweigerlich unsere Sprache, wenn wir zum Beispiel Sätze sagen wie: "Sind Sie ein/e Gläubige/r?" Interessanterweise hat uns Jesus nicht in die Welt gesandt, um Gläubige zu machen, sondern um Jünger zu werden (vgl. Matthäus 28,18-20). Man kann Jesus verehren, ohne zu tun, was er sagt. Wir können an ihn glauben und ihm trotzdem nicht folgen. Paulus bringt im Korintherbrief diese Tatsache folgendermassen zum Ausdruck: „Wenn einer alle Sprachen der Menschen und sogar der Engel spricht, aber keine Liebe hat, ist er doch nur ein dröhnender Gong oder eine lärmende Pauke. Wenn einer göttliche Eingebungen hat und alle Geheimnisse Gottes kennt; wenn er den Glauben hat, der Berge versetzt, aber ohne Liebe ist, hat das alles keinen Wert. Wenn einer seinen ganzen Besitz verteilt und den Feuertod auf sich nimmt, aber die Liebe nicht hat, ist alles umsonst» (1 Korinther 13,1-3).

Zuweilen geht unser Glaubenseifer auf Kosten einer vertieften spirituellen Bildung, in der die konkrete Nachfolge Thema ist: Beschliessen, so zu leben, wie wenn Jesus das, was er sagte, auch tatsächlich so meinte.

Fragen zum Nachdenken:

- Worum geht es Dir primär in Deinem Christsein?

- Verstehst Du Dich selbst als ein/e Jünger/in der Jesusbewegung?

Referenz:

Die Wochenimpulse lehnen sich an die Meditationen des Franziskanerpaters Richard Rohr im «Center for Action and Contemplation» (Albuquerque, New Mexico) an, vgl. https://cac.org

Lektüre zur Vertiefung: Shane Claiborne und Tony Campolo, Red Letter Revolution: What If Jesus Really Meant What He Said? (Thomas Nelson: 2012).
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16.03.2019

Stattkloster Wochenimpuls KW 12 2019 - Jesus nachfolgen (2)

Über einen neuen berauschenden Wein, über neue Ideen zu sprechen ist wichtig. Das reicht aber nicht aus. Für neue Ideen sind auch neue Weinschläuche erforderlich - veränderte Institutionen, Systeme und Strukturen.
Im Matthäus-Evangelium sagt Jesus: „Es füllt auch niemand neuen Wein, der noch gärt, in alte Schläuche; sonst werden die Schläuche platzen, der Wein fliesst aus, und die Schläuche sind hin. Nein, neuer Wein gehört in neue Schläuche! So bleibt beides erhalten.» (Matthäus 9,17)

Christen haben oft ein Evangelium gepredigt, das hauptsächlich aus Worten und Ermahnungen, manchmal auch Drohungen bestand. In der Vergangenheit blieb das nicht ohne Folgen. Wo nur Wein gepredigt wird, ohne auf die «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art» zu achten (vgl. Vaticanum II, Gaudium et Spes 1), steht jede Religion in Gefahr, zur Ideologie zu werden. Wir kennen das aus der sogenannten Missionsgeschichte des Christentums zur Genüge.

Wer Jesus nachfolgen will, kann nicht auf dem Berg der Visionen, Ideen und innerlichen religiösen Erfahrungen stehen bleiben wie die Jünger auf dem Berg Tabor (Matthäus 17,1ff). Er muss wieder hinuntergehen vom Berg und sich den «Mühen der Ebene» (Bertolt Brecht) unterziehen, unserem konkreten Alltag mit all seiner Brüchigkeit. Die persönliche «Erlösung» kann nicht von sozialen, strukturellen und gesellschaftspolitischen Implikationen getrennt werden.

Das Christentum hat aber neben seiner «Kriminalgeschichte» (Karlheinz Deschner) auch einige wunderbar unabhängige Geister, befreite Heilige, Propheten und Mystiker hervorgebracht. Diese versuchten, einige neue Weinschläuche zu schaffen. Zum Beispiel Franz von Assisi. Er wurde vom Mainstream-Katholizismus als Fanatiker, Verrückter und Exzentriker ausgegrenzt. Kein Papst traute sich bis auf den jetzigen, seinen Namen anzunehmen. Gleichwohl hat Franz nur konsequent gelebt, was wir heute oft vergessen: In Jesu Fussstapfen zu gehen. Franz hat begriffen, dass es nicht darum geht, Jesus anzuhimmeln, sondern ihn nachzuahmen.

Fragen zum Nachdenken:

- Wo sehen wir heute Leute, die sich für neuen Wein in neuen Weinschläuchen einsetzen? Was gefällt uns an ihnen, was macht uns Angst?
- Was heisst für uns «Jesus nachahmen» konkret in unserem Leben?

Referenz:

Die Wochenimpulse lehnen sich an die Meditationen des Franziskanerpaters Richard Rohr im «Center for Action and Contemplation» (Albuquerque, New Mexico) an, vgl. https://cac.org

Lektüre zur Vertiefung: Richard Rohr und John Bookser Feister, Jesus’ Plan for a New World: The Sermon on the Mount (Franciscan Media: 1996).
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10.03.2019

Stattkloster Wochenimpuls KW 11 2019 - Jesus nachfolgen (1)

Die ersten Christen wurden «die Leute des Weges» genannt. Das hängt damit zusammen, dass man das Christentum während der ersten fünf Jahrhunderte in erster Linie als Lebensform des alltäglichen Lebens verstand – und nicht als Lehrsystem oder esoterischer Glaube.

«Die Leute des Weges» orientierten sich ganz konkret an Jesu Wort, wie es im Markusevangelium (Mk 12,28-34) aufgezeichnet wurde. Dort fragt ein namensloser Mann: „Welches Gebot ist das wichtigste von allen Geboten des Gesetzes?“ Jesus sagte: «Das wichtigste Gebot ist dieses: ‘Höre Israel: es gibt keinen anderen Herrn als Gott, unseren Herrn. Du sollst ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deinem ganzen Verstand und mit allen deinen Kräften!’ Gleich danach kommt das andere Gebot: ‘Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!’ Es gibt kein Gebot, das wichtiger ist als diese beiden.» Im Lukasevangelium fügt Jesus hinzu (Lk 10,28): „Handle so, dann wirst du leben.“

Für den christlichen Apologeten Justin Martyr (ca. 100 - ca. 165) ist die christliche Praxis der Nachfolge eng verbunden mit einer Verwandlung des Lebens. Er schreibt:

Wir, für die früher der Erwerb von Reichtum und Besitz wichtig war, teilen jetzt das, was wir haben, und wenden uns denen zu, die in Not sind. Wir, die wir einander hassten und zerstörten, und die wir aufgrund unserer unterschiedlicher Sitten und Herkünfte nicht miteinander lebten, leben nun, seit dem Auftreten Christi, vertraut miteinander und beten für unsere Feinde [Erste Apologie, Kap. 14].

Für Justin waren die alten Wege Vergangenheit; der neue Weg eröffnete sich für ihn mit und in Jesus.

Sowohl Feinde als auch Anhänger des Christentums erkannten die Kraft der neuen Religion.  Sie war offensichtlich fähig, ausnahmslos alle anzusprechen – Juden, Nichtjuden, Sklaven, Freie, Männer, Frauen (vgl. Galater 3,28) – und das Leben radikal (radice lat. = von der Wurzel her) zu verwandeln: «Durch Jesus Christus seid ihr alle zusammen ein einziger Mensch geworden» (Gal 3,28).

Fragen zum Nachdenken:
  • Wo triffst Du heute «Leute des Weges»? Was zeichnet sie aus?
  • Was ist Dein Weg? Auf welchem Wegabschnitt befindest Du Dich?

Referenz:
Die Wochenimpulse lehnen sich an die Meditationen des Franziskanerpaters Richard Rohr im «Center for Action and Contemplation» (Albuquerque, New Mexico) an, vgl. https://cac.org

Lektüre zur Vertiefung: Diana Butler Bass, A People’s History of Christianity: The Other Side of the Story, Harper Collins 2009.Bildnachweis: Crucifixion (Ausschnitt), Georges Rouault, 1937.
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